Wir sehen die Welt mit andren Augen

130
18/07 15:00  —  26/10/24 18:00

Wir sehen die Welt mit andren Augen, seitdem wir draußen sind

mit: Christian An, Carole Flammang, Si-Ying Fung, Lukas Hanisch, Laleh Khabbazy, Katharina Krüger, Marie Mausolf, Farhang Rafiee
Kuratiert von Sven Christian Schuch

Die diesjährige Sommerausstellung im sp ce | Muthesius Wir sehen die Welt mit andren Augen seitdem wir draußen sind entspringt dem kuratorischen Jahresthema ÖFFENTLICHKEIT(EN).

Die hier vereinten Künstler*innen bewegen sich in Zwischenzonen des Öffentlichen und Privaten, zwischen kollektiver Erinnerung und intimer Zone, dem Drinnen und dem Draußen. Sie ermöglichen durch ihre Kunst Einblicke in Verborgenes; richten mit ihrer Kunst, dem Austarieren von Kontexten und bewussten Verschiebungen von außen nach innen und innen nach außen einen Fokus auf den Umgang des Menschen mit seiner Umwelt.

Sie widmen sich dem Menschen als soziales Wesen, wie er sich im Außenraum strukturiert, bewegt! Wie er sich im Privaten treiben lässt! Wie er sich im digitalen Raum offenbart, ja entblößt! Wie er sich immer versucht, die Natur untertänig zu machen, sie auszunutzen, zu objektivieren! Wie er sich Monumente baut, um geschichtliche ‚Wahrheiten‘ ins kollektive Gedächtnis einzumauern!

Wir sehen die Welt mit andren Augen seitdem wir draußen sind lädt ein, sich auf eine künstlerische Betrachtung von Welt einzulassen, den Blick zu öffnen, in verschiedene Perspektiven einzutauchen, sich ihnen zu widersetzen, Teil eines Diskurses zu sein.

In Kollaboration mit dem Fachbereich Freie Kunst, Muthesius Kunsthochschule: Prof. Andreas Greiner, Prof.in Almut Linde, Prof. Axel Loytved, Prof.in Isa Melsheimer, Prof.innen FORT Kollektiv, Prof. Piotr Nathan, Aleen Solari

Carole Flammang

Suchverläufe, 2024,  Druckertinte auf Plotterpapier, Sound c. 16min, Größe variabel 

Suchverläufe von Carole Flammang macht verborgene Wege und Spuren digitaler Interaktionen sichtbar und physisch erfahrbar. Suchverläufe, welche an Computern oft nur im Hintergrund verarbeitet und gespeichert werden, sind nun im Raum wie eine monumentale Wand aufgereiht, für alle Öffentlichkeit einsehbar und teilen den Raum. 

Für die Arbeit wurden die anonymisierten Browser History von mehreren Computern aus dem EDV-Zentrum der Muthesius Kunsthochschule mit privaten Suchverläufen überlagert. Begleitet wird die visuelle Darstellung von einer kontinuierlichen Soundinstallation, in der verschiedene K.I.-Stimmen die Suchverläufe rezitieren. 

Florian Huber

Ruhender Fortschritt, Skulptur im Außenraum, Verkehrsinsel Andreas-Gayk-Straße 7-11
E-Scooter, Beton

Die Skulptur Ruhender Fortschritt spielt mit den unterschiedlichen Assoziationen und Vorstellungen von Dynamik. Ein E-Scooter, der gemeinhin moderne Mobilität symbolisiert, wird durch den Guss in Beton in eine starre und unbewegliche Skulptur verwandelt. Damit regt die Arbeit den Diskurs über Fortschrittsgedanken in der e - Mobilität und den Nutzen für das Klima weiter an.

Ruhender Fortschritt ist eine künstlerische Arbeit, die bei näherer Betrachtung tiefergehende Bedeutungsebenen enthüllt. Der Titel selbst suggeriert eine Ironie und vielschichtige Sprache: Fortschritt, eingefroren und scheinbar unbeweglich. Es lädt als kraftvolles Statement dazu ein, über die Grenzen zwischen Fortschritt und Regulierung, Mobilität und Einschränkung in unserer Gesellschaft nachzudenken.

Lukas Hanisch 

Was hält ein Haken, 2022, 450 x 250 x 190 cm, Gips, Sand, Stahl, Stahlplatten, Armierungsstahl, XPS-Platten, 

Die Installation Was hält ein Haken von Lukas Hanisch ist eine künstlerische Materialstudie und spielt mit formalen Gegensätzen. Feste Gradlinige, geometrische Objekte – Abgüsse von gängigen Straßenmarkierungen zur haptischen Orientierung von Fußgängern –, die von Rissen durchzogen sind, stehen Objekten mit brüchigen Oberflächen gegenüber – wiederum Abformungen von Sandhaufen, die Hanisch als Negativ in den Innenraum überträgt. 

Durch die Kontextverschiebungen von Boden zu Wand, von massiven Haufen zu ausgehöhlter Form, von Straße zu Ausstellungsraum, von außen nach innen, befreit er das Material von seinem Nutzen und macht es – vielleicht zum ersten Mal – sichtbar. Alltägliches bekommt durch die künstlerische Bearbeitung eine Aufmerksamkeit, nicht Beachtetes tritt in den Fokus allein durch den neu geschaffenen Rahmen und den ihm gegebenen Raum.

Katharina Krüger  

Kinderzimmer Tapete, 2024, Objekte auf Raufasertapete auf Holz, 86 x 38 cm, jeweils

Das Triptychon Kinderzimmer Tapete von Katharina Krüger mag auf den ersten Blick formale Ähnlichkeiten aufweisen, geht dabei aber den umgekehrten Weg. Die Künstlerin geht von innen nach außen, gibt einen intimen Einblick in die Privatheit ihres Kinderzimmers. Neben der kindlichen Freude an trivialen Gegenständen, schwingt ein Stück Nostalgie mit. Die Zeit der Kindheit ist mit dem Erwachsenwerden entrückt. 

Die schnöde Raufasertapete des einstigen Kinderzimmers wird Träger von kindlichen Schätzen und Erinnerungen, Träumen aus Glitzer, Spielzeug, Fotos, und bietet einen Schutz, einen eskapistischen Ausblick in eine heile Welt vermeintlich jenseits gesellschaftlicher Bewertungen. Im Ausstellungskontext bietet die Arbeit Raum zum Träumen, ermöglicht Rückprojektionen in die eigene Kindheit, einen Moment des Innehaltens und der Vergegenwärtigung.

Laleh Khabbazy & Farhang Rafiee  

Toshak,  2020 – heute, Öl auf Leinwand und Holz, C-Print,  c. 340 x 600 cm

Toshak – was soviel bedeutet wie Matratze, die auf dem Boden liegt – ist eine kollaborative Installation von Laleh Khabbazy und Farhang Rafiee. Dabei verflechten sie Malerei und Fotografien, die private Szenen widerspiegeln, zu einem raumgreifenden Wandteppich voller Erinnerungen.

Teils überlappen sich die beiden Medien, es ergeben sich direkte Bezüge und Assoziationen im Auge des Betrachtenden. Die Szenen reichen von banalen alltäglichen Handlungen, bis hin zu intimen Momenten, geschützt im privaten Raum ihrer Wohnung in Teheran, Iran, bei Freunden oder abgelegenen Orten in den Bergen. Die Freiheit und Freizügigkeit der Handlungen stehen dabei im Gegensatz zum Diktat der sie umgebenden staatlichen Ordnung, in der Repressalien gegenüber Andersdenkenden an der Tagesordnung sind.

Der private Raum wird zu einem Refugium, an dem es möglich ist, sich selbst zu sein, an dem Freunden schnell einladend eine Matratze auf den Boden gelegt wird, und man willkommen ist. Der Innenraum dabei abgeschottet vor urteilenden Blicken.

Laleh Khabbazy & Farhang Rafiee verhandeln in ihren Arbeiten die Spannung zwischen Sichtbarkeit und Verstecken, Intimität und Anonymität, und dem rebellierenden politischen Akt, Privates öffentlich zu machen.

Christian An, Replay, 2024, Arrangement aus Zeichnungen, Collage, Buchobjekt und Neonschriftzug, Tinte, Aquarell,  Buntstift,  Kreide und Dispersion auf versch. Papieren, Anatomie-Buch,  Stoffband, Holz, LED-Schlauch,  Größe variabel 

 

Christian An

spürt in dem Projekt Replay kollektiven Erinnerungsräumen und deren Produktions- und Verhandlungswegen nach. In Nachahmung von Vorgängen der Gedächtnis-Bildung versucht er dabei, durch das Montieren und Collagieren fragmentarischer Inhalte und dem Arrangieren des daraus entstehenden Materials wechselnde Erzählfelder und Kontexte zu produzieren. 

Anhand von Akteuren der deutschen Kolonialgeschichte und der aktuellen Debatte, wie man mit den täglichen Einschreibungen und Formen der Heroisierung im öffentlichen Raum – sei es durch monumentale Standbilder oder Straßennamen – umgehen soll, entspinnt sich ein Gesamtbild voller Bezüge. 

Die Arbeit versteht sich dabei nicht als geschlossene Form, sondern ist auf Erweiterung, Re-Arrangement und damit neue kontextuelle Formulierungen mit variierenden Inhalten angelegt.

Marie Mausolf 

Mustapha, 2022, Flechtkorb aus Bambusgräsern, Fotografien, 30 x 10 x 10 cm, 20 x 15 cm (jeweils) |

Mustapha ist eine sehr persönliche Arbeit, handelt es sich hierbei um ein Geschenk an die Künstlerin, einem handgeflochtenen Bambuskorb. In ihrer Simplizität verweist die Arbeit weit jenseits der freundschaftlichen Geste auf das Verhältnis von Menschen zu Natur und seine Einstellung gegenüber den natürlichen Ressourcen, der in einer konsumorientierten Welt immer weiter in die Ferne zu rücken scheint. 

„I am living in a small village in Marocco, next to the area of Er- Rich. Five years ago, I decided to start my own farm business. My dream is to be able to live independently of the state. I am self-sufficient, generate my own electricity and have built my own well. I try to use as many natural resources as possible. I planted the bamboo next to the small river in town. From the bamboo I build my own furniture like tables, chairs and a bed. I can make an additional profit by selling the vegetables I grow and the bamboo items I create.” 

Si-Ying Fung 

hCG (STRANGE FEET), 2024, Glasiertes Steinzeug, Paraffin, Briefmarke, Saatgut,  Tisch 40 x 45 x 40 cm, Wandobjekt mit Briefmarke: 6 x 8 x 2,5 cm 

Si-Ying Fung beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit dem oft ambivalenten Verhältnis von Mensch zu Tier, in dem Nutzen und Schaden von Tieren aus einer rein menschlichen Sicht betrachtet werden. Die skulpturale Arbeit hCG (STRANGE FEET) beschäftigt sich mit dem Schicksal des Afrikanischen Krallenfrosches (Xenopus laevis). 

Vor den 1970 Jahren wurde eine mögliche Schwangerschaft bei Frauen mit Hilfe dieses Frosches nachgewiesen. Das war einfacher als, wie zuvor, Mäuse oder Kaninchen zu sezieren und bedurfte das lebende Tier. Der Morgenurin der Frau wurde unter die Haut eines weiblichen Krallenfrosches gespritzt. Enthielt der Urin das Hormon humanes Choriongonadotropin (hCG), laichte der Frosch innerhalb von 8-12 Stunden ab, die Frau war gesichert schwanger.

Für die nächsten 20 bis 30 Jahre wurde der Xenopus laevis zum Labor- oder Apothekerfrosch und in Ladungen aus Ländern südlich der Sahara unter anderem nach Europa und in die USA importiert und auch gezüchtet.

Nach der Erfindung des chemischen Schwangerschaftstests hatte man für die vielen Krallenfrösche keine Verwendung mehr. Sie wurden größtenteils ausgesetzt und konnten sich ungehindert ausbreiten. Ihr Aufenthalt dort und außerhalb der Labore ist mittlerweile unerwünscht und die Gattung zählt als invasive Art.

Weitere Veranstaltungen aus dem Format Jahresthema 2024:
FUTUR | FICTION – Büro für Möglichkeiten & Gestaltung von Zukünften 24/01 — 02/03/24 92
going public - Von öffentlichem Interesse 19/06 — 31/12/24 131
← vorheriges nächstes →